15.7.2022
Der französische Hals-Nasen-Ohrenarzt und Phoniater Prof. Dr. Alfred Tomatis (1920 - 2001) widmete sein Leben der Erforschung der Bedeutung des Sinnessystems Ohr weit über die herkömmliche Betrachtungsweise hinaus. Tomatis erkannte die entscheidende Bedeutung des Hörens als Brücke zwischen außen und innen, zwischen Umwelt und Gehirn und befasste sich außer mit dem Ohr auch mit dem Prozess der Wahrnehmung des Gehörten, also der Verarbeitung von akustischen Signalen im Gehirn.
Tomatis entdeckte bei der Behandlung von Menschen mit Lärmschädigungen und Sängern mit Stimmproblemen den engen Zusammenhang von Hören und Stimme und gelangte zu der Erkenntnis, dass die Qualität des Sinnessystems Hören entscheidende Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit der Stimme sowie die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit eines Menschen ist. Daraus entwickelte er eine Methode, mit der er die auditive Wahrnehmung, das Hören, gezielt stimulieren und dauerhaft verändern konnte.
Das Ohr ist als Gleichgewichts- und Hörorgan unser leistungsfähigstes Wahrnehmungsorgan. Der Gleichgewichtssinn organisiert den Körper in der Bewegung, indem er Bewegungsrichtung und –dynamik wahrnimmt. Der Hörsinn erweitert das Körperschema um das Raumschema und verarbeitet die eintreffenden Schallreize.
Eine Therapie dieses Sinnessystems hat deshalb positive Effekte sowohl auf die vestibuläre Kontrolle (Aufrichtung, Bewegungskoordination, Balance, Orientierung) als auch auf die auditive Wahrnehmung (gezieltes Hinhören, akustisches Analyse- und Differenzierungsvermögen, phonologische Bewusstheit). Die Qualität der Hörwahrnehmung wiederum hat entscheidende Bedeutung für den Spracherwerb im Hinblick auf die mündliche und die schriftliche Kommunikationsfähigkeit. Eine Verbesserung der HÖrwahrnehmung bildet deshalb auch in diesen Bereichen eine effektive Unterstützung.
Zur Stimulation des Sinnessystems Ohr entwickelte Dr. Alfred Tomatis eine Therapie, deren technisches Herzstück das Elektronische Ohr ist. Das Elektronische Ohr, nach Tomatis der "Simulator für korrektes Hören", bereitet Musik, in der Regel Mozart und Gregorianik oder Stimmaufnahmen durch Filterung und Angebote verschiedener Klangbilder in definierten Sequenzen zu einem Klangmilieu auf, das in der Hörtherapie individuell auf das persönliche Hörprofil eines Menschen abgestimmt wird. Luft- und Knochenschallleitung werden dabei separat angesprochen.
Dr. Alfred Tomatis war seiner Zeit in vielen seiner Beobachtungen und Schlussfolgerungen voraus und geriet oftmals ins Kreuzfeuer der Kritik seiner Kollegen. Seine therapeutischen Erfolge gaben ihm jedoch Recht. So half er mit seiner Methode zahlreichen Menschen, auch Prominenten wie z.B. Gerard Depardieu oder Maria Callas.
Die Tomatis Technik, das "Elektronische Ohr", ist inzwischen mit modernsten technischen Möglichkeiten und aufgrund der langjährigen Erfahrungen dieser Therapieform differenziert weiterentwickelt und in seinen Möglichkeiten deutlich verfeinert und erweitert worden.
Die aktuelle Hirnforschung und die Wahrnehmungspsychologie bestätigen heute das, was Dr. Alfred Tomatis bereits durch unermüdliche Beobachtungen und Experimente erkannt hatte. Heute wissen wir, dass neuronale Netzwerke aus unseren sensorischen Erfahrungen entstehen. Diese legen Muster fest, entscheiden, wie diese Muster geformt und wie weit sie verzweigt sind. Je reichhaltiger unsere sensorische Umgebung ist und je mehr Möglichkeiten wir haben, diese zu erkunden, desto verzweigter sind die Muster. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit erweitert sich und damit auch unser Handlungs- und Verhaltensspielraum.
In der Hörtherapie wird genau dieser Effekt genutzt. Ein neuartiges und ungewohntes Klangangebot stimuliert das Gehirn. Durch Überlagerung mit früher entstandenen Erregungsmustern, d.h. der bisherigen Hörweise, darstellbar im individuellen Hörprofil, werden die gewohnheitsmäßigen Muster in einem Zustand fokussierter Aufmerksamkeit angeregt, neue Möglichkeiten zu integrieren und zu erweiterten Aktivierungsmustern zusammenzufügen. Durch hinreichend häufige Wiederholung des Sinnesreizes, das Hörtraining, werden diese neuen Aktivierungsmuster immer wieder erregt und die beteiligten Nervenzellverbindungen gebahnt und stabilisiert. Es entstehen neue innere Hörbilder und Möglichkeiten der Hörwahrnehmung, die danach auch ohne äußere sinnliche Stimulation verfügbar sind, d.h. gelernt wurden. Das gibt dem Gehirn die Möglichkeit, Sinnesreize nun auch außerhalb des therapeutischen Raums differenzierter aufnehmen und verarbeiten zu können.